Georg Milzner taucht seit vielen Jahren tief in der Welt der menschlichen Psyche ein, in deren Manifestation in der Gesellschaft, in Kultur und Kunst – er hat auch Kunst studiert – und eben auch in die Welt der Archetypen. Er ist ein Grenzgänger zwischen verschiedenen Therapieformen. Und er verfügt über ein ungewöhnlich sensitives seelisches Tiefenradar mit Herz. Dadurch werden in seinen Workshops und seinen Büchern die Wechselwirkungen zwischen Menschen, Kulturen, Spiritualität und Individuationsprozess auf faszinierende Weise erfahrbar. Darum überrascht es auch nicht, dass er den allgemein bekannten 12 Archetypen, wie sie auf Jung zurückgehen, eigene hinzugefügt und im therapeutischen Alltag erprobt hat.

Das vorliegende Buch gibt Kunde davon. Es ist unmittelbar alltagstauglich durch seine Gliederung und Darstellung und die vielen Beispiele aus der therapeutischen Praxis. Es ist zudem eine Quelle von Inspirationen über den therapeutischen Alltag hinaus. Denn es ist eine Einladung zum Experimentieren mit sich selbst. In den Fallbeispielen erleben wir, wie der Autor die verschiedenen Prinzipien in wirksame Worte gekleidet, auf den Weg zum Wesen der Klientin bringt. Das ist therapeutische Poesie- oder poetische Therapie. Diese Passagen sind Inspirationsquellen fürs eigene Wording.

Wie können wir in Trance Archetypen aufrufen? Zitat: Archetypen können in Trance auf zweierlei Weisen aufgerufen werden. Einmal als helfende Instanz des Unbewussten, die dann in der Regel als Stimme oder bildliche Begegnung erfahrbar wird. Oder auch, indem die archetypische Energie dem Patienten fühlbar wird.

Als Appetizer werden zwei der dreizehn Archetypen-Kapitel – unter Nutzung vieler Zitate – näher beleuchtet:

Der Archetyp der Heilung: Innere HeilerInnen und Ärzte

„Wenn der innere Arzt nicht arbeitet ist der äussere Arzt machtlos“ (Albert Schweitzer). Der innere Arzt spielt sowohl in spirituellen Kontexten als auch in der Naturheilkunde eine Rolle. Als Symbol der Selbstheilungskräfte des Organismus hat er seine wohl grösste Bedeutung. Der innere Heiler stellt so etwas wie die Summe des biologisch verankerten Gesundungswissens dar. Zum Klienten: „Nun, ja, wenn Sie einmal annehmen, es gibt da so etwas wie einen Inneren Arzt, vielleicht einen Heiler oder Medizinmann – vielleicht auch eine Heilerin, eine Ärztin … und diese heilende Gestalt könnte Ihnen sichtbar oder fühlbar werden … Wenn ich Sie bitte, die Augen zu schliessen und ein Bild, eine Vorstellung von ihm oder ihr erscheinen zu lassen, dann achten Sie einfach nur auf das, was kommt. Egal was es ist.“ Nun muss dieses Selbstwissen irgendeine Gestalt annehmen, um kommunizierbar zu sein. Hierfür wählt die unbewusste Psyche eine Oberfläche aus, die das möglichst gut kann. Oft scheint der innere Heiler ähnlich eines Orakels rätselhafte Botschaften zu vermitteln. Interessant ist der Hinweis, dass der innere Heiler auch präventiv aktiv sein kann, in Form von – oft ignorierten – Warnungen bezüglich der eigenen Lebensführung. Gemäss Milzner kann uns das persönliche Unbewusste dorthin führen, wo wir erkrankten und aufzeigen, was uns guttut und gesünder macht. Das archetypische Wissen hingegen kann durch die Verwurzelung im kollektiven Unbewussten in Teilen auch Kulturen entstammen, in denen wir selbst nicht aufwuchsen. Und dieses uralte Wissen kann uns in Heiltrancen zugänglich werden. Interessant ist der Verweis auf Ralph Metzner – er forschte ebenfalls über Archetypen – der den Heiler zugleich auch als Friedensstifter interpretierte. Denn Heilkundige ebenso wie Frieden Stiftende überbrücken die Gegensätze und bringen so zuerst Koexistenz hervor mit konsekutiv möglicher Integration. Und unsere an vielen Orten zerrissene Gesellschaft braucht dringend vielfältige Heilung.

 

Der Archetyp der Grossen Mutter

Es gibt einen Archetyp der Mutter und einen Archetyp der Grossen Mutter. Aber es gibt keinen Archetyp des Grossen Vaters. Väterlichkeit scheint in der Evolution eine weniger verlässliche Grösse darzustellen als dies für die Mutterschaft gilt. Der Archetyp der Grossen Mutter umfasst nicht nur die genetische Abstammung, sondern ist ein Bild des Nährens, Hütens, Begleitens und Verteidigens von einer übergreifenden Tragweite, wie sie männliche seelische Kräfte nur in Ausnahmefällen zu entwickeln vermochten. Wir begegnen in diesem Kapitel auch den „Wahleltern“, wo in Trance neue Eltern gefunden werden, die den Patienten wieder und wieder in therapeutischen Sitzungen begleiten, halten und unterstützen (Milzner 1997). Diese Wahleltern können wirkliche Menschen sein oder Fantasiegestalten oder auch eine Filmfigur. Entscheidend – so Milzner – ist die emotionale Aufladung der Beziehung zu ihnen. Er behandelt so Bindungsstörungen und frühe Entbehrungen mit dem Archetyp der Grossen Mutter. Also Menschen die sagen, niemals das Erlebnis mütterlichen oder grossmütterlichen Gehalten-Seins kennengelernt zu haben. Denn das Mutterbild all dieser Menschen war zumeist ein negatives, zumindest distanziertes und sie begegnen allem was „mütterlich“ klingt mit ausserordentlicher Skepsis. Demgegenüber thematisieren Konzepte wie eine innere Freundin oder ein innerer Freund etwas ganz anderes. Sie führen eher Anteile der Persönlichkeit zusammen, als dass sie an archetypische Themen herangingen. Innere Freundinnen beeinflussen die Selbstbeziehung und holen Anteile von uns herbei, von denen wir uns angenommen fühlen und die uns gernhaben. Beispiele aus der Sagenwelt, die Teilaspekte des Archetyps der Grossen Mutter transportieren: Z.B. die germanische Göttin Frigga oder die griechische Göttin Hera, eine Hüterin von Haus, Ehe und Familie. Später tritt Frigga als huldvolle Göttin „Hulda“ in die Märchenwelt ein, aus der wir sie als Frau Holle kennen. Das Märchen „Frau Holle“ kann darum einerseits als eine Geschichte aus matriarchalischen Kulturen gelesen werden, in der es um die Kraft und das ordnende Wirken der Urgöttin geht. Und anderseits lässt sich das Märchen auch als die Geschichte der Selbstwerdung einer jungen Frau lesen, die sich aus der mütterlichen Umklammerung löst. Beide Aspekte der Grossen Mutter sind in das Märchen mit eingeflossen. In diesem sehr reichhaltigen Kapitel nutzt der Autor auch die Metapher der Gaia als haltende Kraft bei einer Klientin mit intermittierender existenzieller Angst. Weitere Unterkapitel sind: Der dunkle Aspekt der Grossen Mutter / das Universelle der Grossen Mutter / die Grosse Mutter und die weibliche Autonomie.

Die übrigen elf Archetypen sind: Archetypen des Kampfes 1: Vom Krieger zum Helden / Archetyp des Kampfes 2: die wehrhafte Frau / Der Archetyp des göttlichen Kindes / Närrinnen, Clowns und Irre / Der Archetyp der alten Weisen / Archetypen der Freiheit und Kraft 1: die wilde Frau / Archetypen der Freiheit und Kraft 2: der wilde Mann / Der gute Hirte und die grosse Gärtnerin: Archetypen der Sorge / Der Archetyp des Orts der Gesundung / Der Archetyp des wissenden Tiers / Der Drache und der Schatz, den er hütet.

Das Buch umfasst nur 166 Seiten (ohne Literaturangabe). Aber es hat es in sich. Ich wünsche den Leserinnen und Lesern viel Vergnügen beim Eintauchen in diese uns alle berührende und bewegende Welt der Archetypen. Sie birgt vielfältige Heilkräfte für unsere wunderbare Welt als Ganzes.

Georg Milzner ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Er arbeitet in eigener Praxis in Oldenburg und als Forschungsleiter und Therapeut am Institut für Hypnotherapie in Düsseldorf. Seine Arbeit als Hypnotherapeut und Bewusstseinsforscher ist geprägt von Brückenschlägen zwischen moderner digitaler Welt und den spirituellen Dimensionen des Unbewussten.

Georg Milzner: Hypnotherapie mit Archetypen; alte Bilder des Unbewussten in moderne Therapie integrieren, Kohlhammer 2024, 176 Seiten, ISBN 978-3-17-044403-4

Buchbesprechung von Heini Frick, Luzern 15.10.2024

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