Der Tinnitus ist nicht das Problem- Gut leben mit moderner Hypnose
von Uwe H. Ross
Carl Auer-Verlag Heidelberg 2024, 244 Seiten
Uwe Ross ist in der SMSH wohlbekannt (u.a. Workshops „Erholung fürs Ich – Hypnosystemische Selbststeuerung“ 2020, „Hypnosystemische Selbststeuerung in schwierigen Zeiten“ 2023, K.I.S.S.- Adhoc-Interventionen der modernen Hypnose“ 2024). Er ist Arzt für Ohrenheilkunde und Psychosomatiker mit Lehrtätigkeit. In seinem Buch „Der Tinnitus ist nicht das Problem – Gut leben mit moderner Hypnose“ widmet er sich einem Thema, für das er von seinem fachlichen Hintergrund her prädestiniert ist. Hier schreibt ein fächerübergreifender Experte, der aus dem Vollen schöpft.
Hörvorgang und Tinnitus- eine Sache des Gehirns
85% der Menschen mit chronischen Ohrgeräuschen leben gut damit, und dies hängt nicht von Art und Lautstärke des Tinnitus ab, sondern von der Art der mentalen und emotionalen Verarbeitung. Die Grundlagen dazu erfährt man im Kapitel über den normalen Hörvorgang, der sich – und dies ist wichtig, den Patienten zu erklären – zu einem grossen Teil im Gehirn abspielt (sodass wir mit den Fähigkeiten unseres Gehirns darauf Einfluss nehmen können). Die Umschaltstellen der Hörbahn arbeiten nach dem Prinzip der Mustererkennung, d.h. sie leiten das weiter, was auf früher erlernten Verknüpfungen von Informationseinheiten basiert. Das limbische System ist beteiligt, sodass nicht nur gefiltert wird nach „bekannt“– „unbekannt“, sondern auch z.B. nach „angenehm“ – „bedrohlich“ und zwar automatisiert. Ein an und für sich bedeutungsloses Nervenimpulsmuster wird bewertet – die Art der Bewertung entscheidet darüber, ob Tinnitus zu einer „Randnotiz der Wahrnehmung“ oder zu einer Qual wird.
In der Neurobiologie steckt die therapeutische Chance
Im Kapitel über Ursachen und Einflussfaktoren wird zuerst nochmals auf somatische Aspekte eingegangen, bevor verschiedene neurobiologische Modelle der Tinnitus-Entstehung dargelegt werden. Hier sei eines davon vorgestellt, das das Prinzip Mustererkennung vertieft, das des „Predictive Coding“: Wahrnehmung ist ein Zusammenspiel von top down-Vorannahmen, die abgeglichen werden mit den Sinnesreizen, die bottom-up zum Gehirn geleitet werden. Ohne dieses Zusammenspiel, nur mit Hilfe der Sinneseindrücke, wäre es uns nicht möglich, Situationen rasch genug zu beurteilen. Dort, wo die Meldungen durch die Sinnesorgane nicht mit dem top down durch das Gehirn Vorhergesagten übereinstimmen, werden sie mit hoher Priorität behandelt und bleiben im Bewusstsein. Es wird beispielsweise Ruhe erwartet, stattdessen trifft ein Tinnitus-Signal ein, erfährt hohe Aufmerksamkeit und wird durch die übergeordneten Hirnregionen bewertet. Lautet das Urteil „bedrohlich“ löst das Tinnitus-Signal Stress und Leiden aus. Auf diese Bewertung kann auf verschiedene Weise Einfluss genommen werden – zum Beispiel durch bewusste Wahrnehmung und Akzeptanz, durch Verlassen der dysfunktionalen Strategien zur Vorhersage (Sorgen, Grübeln etc) oder Erhöhung der Fehlertoleranz durch positive Emotionen und Entspannung.
Das Ohrgeräusch ist also ein bioelektrisches Aktivitätsmuster im Gehirn, das ohne jede Erkrankung ausgelöst werden kann und in sich neutral ist. Die emotionale und kognitive Bewertung entscheidet darüber, ob es zum Leiden wird. Ist die negativ gefärbte Aufmerksamkeit einmal da, treten immer mehr Nervenzellen in den Dienst der Tinnitus-Wahrnehmung – das Leiden nimmt zu. Diese Nervenzellverbände – und das ist die gute Nachricht- können aber auch umtrainiert werden.
Die Therapie- von somatischen Aspekten bis zu neuen Wegen für die Tinnitus-Verarbeitung
Als Erstes stellt der Autor die Behandlung von somatischen Grundleiden dar, die nicht vergessen werden darf. Nur 8% der Tinnitus-Betroffenen haben ein normales Hörvermögen- das heisst, bei neu auftretendem Tinnitus ist als Erstes der Gang zur Ohrenärztin/zum Ohrenarzt wichtig! Eine gute Hörgeräteversorgung kann oft das Tinnitus-Problem bereits lösen. Da, wo kein somatisches Grundleiden vorliegt, hören die Patienten häufig: „Damit müssen Sie leben!“ Oder: „Da kann man nichts machen“ – Anlass für Verzweiflung und Doctor-Shopping. An Tinnitus Leidende brauchen Hilfe, aber die richtige! Hier geht Uwe Ross auf die verschiedenen Behandlungsansätze und die Ergebnisse von Wirksamkeitsstudien ein. Er stellt auch bekannte Methoden dar, die unwirksam sind, denn leider sind diese bei Leuten, die noch davon überzeugt sind, ihr Leiden sei ausschliesslich ein Problem des Ohrs, oft beliebt.
Sehr klar wird die Indikation für verschiedene wirksame Verfahren, allenfalls auch stationäre Behandlung, je nach Grad der Tinnitus-Belastung aufgezeigt. Ein wichtiges Behandlungsinstrument ab Tinnitus Grad II (störend bei Stress, Entlastung erwünscht) ist die Tinnitus-Retraining-Therapie, bestehend aus intensiver Beratung, psychischer Stabilisierung und evtl. Geräteversorgung. Die Nervenzellverbände, die das Leiden am Tinnitus bewirken, können umtrainiert werden. Und wenn die Massnahmen der Akutphase ohne Erfolg geblieben sind, muss die Strategie geändert werden Richtung Akzeptanz und Reframing des Tinnitus.
Hier nimmt der Autor die Lesenden gleichsam bei der Hand und führt sie Schritt für Schritt von den Konzepten von Stress, Stressbewältigung und Resilienz hin zu der ganz individuellen Funktion des Tinnitus als einem Signal, das auf vernachlässigte innere Bedürfnisse aufmerksam macht. Die Konzepte erscheinen nicht einfach als Schlagworte, sondern werden einem so lebendig nahegebracht, dass man sich darin erkennen kann. Das Ziel ist: Aus dem „Feind“ Tinnitus, den man umsonst zu verscheuchen sucht, wird ein innerer Helfer, der dazu mahnt, Pausen zu machen, sich besser abzugrenzen oder auch durchzusetzen. Mehr und mehr geht es nicht mehr um das Ohr, sondern um das Leben. Eindrückliche Fallbeispiele zeigen, wie früher am Ohrgeräusch Leidende nach der Therapie sagen, sie möchten dieses nicht mehr missen!
Die Rolle der Hypnose
Hypnose ist hilfreich, weil sie das unwillkürliche Erleben einbezieht, das beim Tinnitus eine grosse Rolle spielt. Anschaulich wird erklärt, was Hypnose ist und wie sie wirkt, auch auf ihre Geschichte wird eingegangen. Studien belegen ihre gute Wirksamkeit bei Tinnitus, wobei klar bleiben muss, dass es nicht darum geht, ihn zum Verschwinden zu bringen, sondern ihn von negativen Gefühlen, Gedanken und Körperreaktionen abzukoppeln. Wie erreicht man das? Indem man ihn nicht krampfhaft zu vertreiben sucht, sondern dazu einlädt, den adäquaten Platz im eigenen akustischen Universum zu finden. Wo dieser Platz ist, bestimmt die Person und nicht das Geräusch. Dass das möglich ist, können viele Leidende zu Beginn des Behandlungsprozesses fast nicht glauben und sind entsprechend dankbar, wenn man ihnen dazu verhilft.
Zielfindung und Basis-Übungen
Der Hypnose-Teil ist so klar und systematisch gestaltet wie das übrige Buch. Wir Fachleute finden darin Bekanntes, spezifisch ausgerichtet auf die Tinnitus-Behandlung. Zuerst einmal – und das ist ein wichtiger Aspekt – wird ein sinnvolles, positives Ziel erarbeitet, also nicht „Kein Tinnitus mehr“, sondern „Wie möchte ich, dass mein Leben aussieht“. Eine Reihe von geschickt gestaffelten Fragen führt dorthin, die berühmte Wunder-Frage hat auch ihren Platz.
Dann kommen die Basis-Übungen: Zu diesen gehören Atem-Induktion, Entspannung und Safe Place; aber auch geschickt gestaltete Übungen zur Verbesserung und zum Einbezug von Körperwahrnehmungen (z.B. bei einer Entscheidung auch das Körpergefühl konsultieren). Gerade bei Tinnitus-Leidenden, die so einseitig auf das Ohr fixiert sind, ist das wichtig.
Aufbau-Übungen
Die Aufbau-Übungen sollen dazu verhelfen, die unwillkürlichen negativen emotionalen und vegetativen Reaktionen auf den Tinnitus zu verändern. Sie fangen mit einem Habituations-Training an: in leichter Entspannung dem Tinnitus zuhören. Unter Beizug einer emotionalen Ressource beobachten, wie sich das gefühlsmässige Erleben des Ohrgeräuschs oder sogar das Ohrgeräusch selbst durch die Ressource verändert. Hier zeigt sich bereits: es geht nie darum, den Tinnitus zu vermeiden, sondern ihn anders zu bewerten. Die weiteren Übungen erinnern uns zum Teil an die Behandlung chronischer Schmerzen mit Hypnose. Zum Beispiel kann das Empfinden, das durch das Ohrgeräusch ausgelöst wird, im Körper lokalisiert und dort in eine Farbe verwandelt werden, worauf ein angenehmes Empfinden in einer anderen Körperregion gesucht und mit einer eigenen Farbe versehen wird. Dann nur noch beobachten, wie die Farben miteinander interagieren und das Körpergefühl sich neu organisieren kann, bis es auch in Gegenwart des Ohrgeräuschs gelassen und ruhig ist. Oder – angelehnt an die Ego-State-Therapie – es wird ein Tiersymbol oder eine menschliche Gestalt je für den Tinnitus und die daran leidende Person kreiert und die Protagonisten können miteinander verhandeln, herausfinden, was jedes braucht, damit eine Kooperation zwischen ihnen entsteht.
Vertiefungs-Übungen
Bei den Vertiefungs-Übungen geht es darum, dass der Tinnitus mehr und mehr in den Hintergrund tritt und die Aufmerksamkeit sich auf interessanteres Neues richtet. Zum Beispiel kann die Art des Tinnitusgeräusches (und nicht nur das dadurch ausgelöste Körpergefühl) durch eine Farbe symbolisiert und mit einer anderen, angenehmen Farbe modifiziert werden. Zusätzlich kann es mit einer angenehmen Erfahrung assoziiert werden, an die sich eine ganze Kaskade weiterer angenehmer Erfahrungen anschliesst. Es kann auch in der Art einer Distanzierungstechnik zuerst in eine Farbe verwandelt und so in einem Heissluftballon verschickt werden. Die frei gewordene Aufmerksamkeit wird dann auf ein positives Ressourcen- und Energiefeld gelenkt, gefolgt von einer Altersprogression hin zum Zustand, wo die Aufmerksamkeit sich auf Angenehmes und Interessantes richtet.
Übungen, die kein bildhaftes Vorstellungsvermögen brauchen
Die Übung „Feuerprobe“ kommt ohne bildhafte Vorstellungen aus. Sie ist geeignet für Menschen mit einer Afantasie. Hier wird in einer positiven Trance das Tinnitus-Geräusch so lange fokussiert, bis es sich mehr und mehr verwandelt; also eine reine Exposition mit Eu-Trance als Ressource. Dabei könnte sich – was der Autor nicht speziell erwähnt und was wohl den Rahmen des Buches sprengen würde – ein Pfad Richtung Bearbeitung des Tinnitus mit traumatherapeutischen Verfahren wie EMDR oder Brainspotting auftun.
Musikalische Menschen können auch auf ihrem Instrument oder mit ihrer Stimme zum Ohrgeräusch improvisieren – eine besonders kreative Art der Exposition.
Hyperakusis – die Krankheit der Altruisten
Es folgt ein spannendes Kapitel über die Therapie der Hyperakusis. Die dabei wirksamen gestörten auditiven, zentralnervösen Filterprozesse müssen im psychosozialen Kontext gesehen werden. Gemäss der Erfahrung des Autors tritt das Symptom gehäuft bei einseitig altruistischen Menschen auf, „die für Gott und die Welt unterwegs sind, nur nicht für sich selbst“. Sie müssen wieder lernen, ihre Körperwahrnehmung zu verbessern und auf die eigenen Grundbedürfnisse zu achten. Empfohlen werden Übungen zur Zentrierung. Eine Übung heisst „Erholungsraum“ – ein wohltuender Raum, der dem Etablieren eines angenehmen Körpergefühls dient. Eine andere dient dazu, die eigene Mitte (entsprechend dem Gilligan’schen Felt Sense) möglichst intensiv zu spüren. Von da aus können Geräusche innerlich vorgestellt werden, wobei einer Störungs-Hierarchie gefolgt wird. Das Geräusch wird innerlich gehört und wenn es stört, immer wieder ein Weg gefunden, dennoch zur eigenen Mitte zurückzukehren. Empfohlen wird auch, ganz konkret bislang gemiedene Geräusch-Situationen aufzusuchen.
Der Umgang mit „Rückfällen“ und „Ehrenrunden“
Das Buch schliesst ab mit Anregungen für die Situationen, wo der Tinnitus trotzdem wieder einmal in unangenehmer Weise zurückkommt. Es geht um Relativierung und Reframing. Nicht denken „Es war alles umsonst“ oder „Ich bin ein hoffnungsloser Fall“, sondern: „Das ist eine Ehrenrunde“. Der Tinnitus hat eine lange Tradition und zeigt sich nochmals. „Der Organismus straft nicht, er gibt Feedback“. Was gibt es noch zu lernen? Sinnvoll ist, sich durch den Kopf gehen zu lassen, womit man den Tinnitus noch verschlimmern könnte, woraus sich im Gegenzug schliessen lässt, was ihn lindern kann.
Fazit: Aus diesem Buch können alle etwas lernen
Der Autor stellt die Problematik des Tinnitus wie auch die Behandlung Schritt für Schritt klar und in lebendiger Sprache dar. Medizinische Laien bekommen klare, verständliche Informationen. Gleichzeitig werden spannende Einblicke in die Forschung geboten, die Fachleuten zu einer differenzierten Betrachtung der komplexen Thematik verhelfen.
Das Layout ist so gestaltet, dass es leicht möglich ist, die Abschnitte mit einfach formulierten Informationen und diejenigen mit komplexeren wissenschaftlichen Ausführungen voneinander zu unterscheiden. So kann allen Patientinnen und Patienten – auch denen ohne naturwissenschaftliches Vorwissen – die Lektüre empfohlen werden.
Stupend ist die Fülle der Übungen, die angeboten werden. Aus dieser kann herausgesucht werden, was zur individuellen Problematik und zu den eigenen Ressourcen am besten passt. Der Clou: Nicht nur kommt jede der Übungen mit einer ausformulierten Anleitung daher, sondern es ist auch möglich, sie mithilfe eines QR-Codes als Audiodatei herunterzuladen. So wird das Buch ein Instrument zur Selbsthilfe. Dies ist wichtig, wenn man bedenkt, wie schwierig es oft ist, Therapeutinnen und Therapeuten mit Erfahrung in Tinnitus-Behandlung zu finden.
Ein Buch, das das Thema Tinnitus-Therapie breit abdeckt und den Spagat schafft zwischen differenzierter Darstellung der neusten Forschungsergebnisse und einer klaren, einfachen Verständnishilfe und Übungsanleitung. So reichhaltig und anspruchsvoll es ist, liest es sich flüssig und spannend. Ein Must Have für alle, die sich als Fachleute oder Betroffene mit Tinnitus auseinandersetzen.
Christine Glauser
Dr.med. Christine Glauser
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
christine.glauser@hin.ch